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Botschafter Shi Mingde gab Berliner Zeitung ein Interview
2013-11-15 22:55
 Am 09/10. November veröffentlichte Berliner Zeitung das Interview mit dem Botschafter Shi Mingde. Das Interview im Wortlaut:

 

Go West! ist die Parole unserer Politik

 

Shi Mingde, der Botschafter der Volksrepublik China, im Gespräch über Lehren aus dem Westen, Traditionen des Ostens und das, was ihn in Berlin am meisten beeindruckt

Heute, am 24. Jahrestag des Mauerfalls, beginnt in Peking das dritte Plenum des 18. Zentralkomitees der KP China. Es wird am Dienstag zu Ende gehen. Man erwartet dann Klarheit über die nächsten Schritte und vielleicht sogar ein wenig darüber hinaus. Heute kommt hier einer der diplomatischen Führungskader der Partei zu Wort. Der 1954 in Schanghai geborene Shi Mingde ist seit August 2012 Botschafter der Volksrepublik China in Berlin. Er ist einer der besten Kenner Deutschlands. Des Deutschlands von heute und der Deutschländer von gestern. Shi Mingde spricht fließend Deutsch. Wir stehen in der Botschaft vor einem Gemälde von Zong Qixiang (1917-1999), einem der prägenden Künstler der VR China, der die traditionelle chinesische Landschaftsmalerei mit der westlichen Malkunst verband.

   
Felsen links, Felsen rechts, dazwischen ein Fluss, in seiner Mitte ein Floß. Was ist das?

Das ist der Fluss Jin Sha (Goldener Sand). Hier stand Anfang Mai 1935, während des Langen Marsches, die Volksbefreiungsarmee. Hinter ihr die Truppen Chiang Kai-sheks. Jedes chinesische Kind kennt diese Szene.

Nichts ist davon zu sehen. Keine Volksbefreiungsarmee, keine Kuomintang.

Dort oben rechts steht es: Die Fähre Jiao Che über den Fluss Jin Sha, während des Langen Marsches.

Auf dem Bild keiner der Zehntausenden Soldaten, keine Boote. Nur die Felsen, der Fluss und dieses winzige Floß. Eine Idylle.

Es gab damals nur sechs Fischerboote. Die ganze Armee wurde von diesen Booten nach und nach über den Fluss gebracht. Es dauerte neun Tage und neun Nächte, bis die Volksbefreiungsarmee übergesetzt hatte. Das ist eine berühmte Geschichte. Jeder, der dieses Bild betrachtet, kennt sie. Spätestens wenn er den Text liest, denkt er sie sich dazu.

Was sagen Sie zu den Aktivitäten der NSA? Ist das normales politisches Geschäft, wie andere Staaten, China zum Beispiel, es auch machen?

Auch wir verfolgen die Medienberichte darüber und die Reaktionen der betroffenen Länder. Bei der Sicherheit von Information und Internet geht es um die Souveränität und Sicherheit aller Länder der Welt. China setzt sich dafür ein, dass die internationale Gemeinschaft nun verbindliche Verhaltensregeln verabschiedet. China hat schon gemeinsam mit Russland und weiteren Ländern einen Entwurf des Internationalen Verhaltenskodexes für Informationssicherheit bei der Uno eingereicht und wird auch die Verhandlung in dieser Angelegenheit vorantreiben.

Apropos Russland. Wie beurteilen Sie die verstärkte Zusammenarbeit von japanischer und russischer Kriegsmarine?

Wir hoffen, dass die Zusammenarbeit betroffener Länder zum Frieden und zur Stabilität der Region beiträgt.

Herr Shi, Sie waren 1989, als die Mauer fiel, in Berlin.

Ich war damals Mitarbeiter in der politischen Abteilung der chinesischen Botschaft in der DDR. Wir haben die Ereignisse mit größter Aufmerksamkeit beobachtet. Nicht nur beobachtet. Wir haben sie analysiert. Ich kam ja zum ersten Mal 1972 nach Ost-Berlin. Um Deutsch zu lernen. Die DDR war die stärkste Wirtschaftsmacht im sozialistischen Lager. Ich war fünf Tage, sechs Nächte mit dem Zug unterwegs gewesen, von Peking aus durch Westsibirien über Moskau bis Berlin.

Sie konnten durch Russland reisen? 1972? Da war doch fast Krieg mit der Sowjetunion.

Der Zugverkehr lief immer normal. Dreimal die Woche Peking-Moskau. Im November 1972 fuhr ich ab ins Ungewisse. Unterwegs Schnee, nichts als Schnee. Dann Moskau, eine große Metropole. Am Ende Berlin.

Sie dachten: In was für ein Dorf bin ich hier geraten?

Nein, nein. Berlin war eine Metropole. Das war vor 41 Jahren. Ich habe in Berlin sehr das Angebot in den Läden bewundert. In China war ja alles rationiert. In Berlin konnte man so viel essen, wie man wollte. Aber: Die Stadt war in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Man sah Amerikaner, Franzosen, Briten, Russen mit ihren Jeeps herumfahren. Das hat mich sehr gewundert. Ich kannte das nur aus Geschichtsbüchern. Ich hatte nicht gewusst, dass es das noch immer gab. Ich bedauerte die Deutschen. Sie taten mir leid.

Es ging den Deutschen ja gut dabei.

Wirtschaftlich ja. Aber politisch?! Die DDR und die Bundesrepublik waren keine souveränen Staaten.

Nach dem Studium gingen Sie zurück nach Peking?

1986 kam ich wieder in die DDR. Jetzt war alles anders. In der DDR war Stagnation. Hier herrschte die Mangelwirtschaft der Planwirtschaft. In China dagegen liefen bereits die Reformen. Die Bauernmärkte brachten ein reiches Angebot. Es gab Privatunternehmen. Die Politik der Reformen und Öffnung zeigte Wirkung.

1986 war ihr Eindruck: China ist deutlich weiter als die DDR?

Das war nicht zu übersehen. Noch Ende der Siebzigerjahre hatte es ganz anders ausgesehen. Die Versorgung sollte durch die Volkskommunen gewährleistet werden. Eine Gleichmacherei, die nicht funktionierte. Bis dann Deng Xiaoping sagte: Das Modell der Sowjetunion hat ausgedient. So geht das nicht weiter. Wir müssen einen eigenen Weg gehen. Wir müssen die Marktwirtschaft – damals ein Symbol des Kapitalismus – in den Sozialismus integrieren. Die Bauern bekamen eigenes Land, lieferten einen Teil an den Staat ab und konnten über den Rest frei verfügen. Mit einem Mal war die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln gewährleistet. Achtzig Prozent der Bevölkerung Chinas waren damals noch Bauern.

Spielten dabei die anderen Erfahrungen mit der Marktwirtschaft im Sozialismus, zum Beispiel Jugoslawien, eine Rolle?

Jugoslawien hatte schon nach dem Zweiten Weltkrieg versucht, über das System hinauszukommen. Aber damals blieb China nichts anderes übrig, als dem sowjetischen Modell zu folgen. Nach zwanzig Jahren war klar, dass das für China nicht geeignet war. China war ein Agrarland. In der frühen Sowjetunion galt: an erster Stelle die Schwerindustrie, dann die Leichtindustrie und erst danach die Landwirtschaft. Das taugte nicht für China. Wir mussten die Reihenfolge umdrehen: erst die Landwirtschaft, dann die Leicht- und erst dann die Schwerindustrie. Maos Versuch, einen eigenen Weg zu gehen, klappte nicht richtig. Dann kam die Zeit der Kulturrevolution.

Wo verbrachten Sie die?

Ich war zunächst in der Schule. Dann gab es ein Jahr Pause. In ganz China gab es keinen Unterricht mehr. Überall waren Rotgardisten und machten Revolution.

Sie zogen herum und schwenkten …

… die Maobibel. Ja. Ich hatte an der Fremdsprachenschule Deutsch gelernt. Unsere Lehrer aus der DDR mussten zu Beginn der Kulturrevolution China verlassen. Die Kulturrevolution war gegen alles Ausländische und auch gegen die chinesische Tradition. Tempel wurden zerstört. Alles sollte neu sein. Keiner arbeitete mehr. Alle gingen auf die Straßen. Die Regierungen in den Städten, in den Provinzen, in Peking waren abgesetzt. Die Rotgardisten sollten das Kommando übernehmen. Man nannte das damals „Große Demokratie".

Sie waren begeistert dabei?

Zu Beginn der Kulturrevolution war ich elf Jahre alt. Erst an ihrem Ende begann ich ein wenig zu verstehen von dem, was passierte. Es gab immer weniger zu essen. Die Revolution hatte uns nichts gebracht. Dann starb Mao, und endlich kam Deng Xiaoping, der damit Schluss machte.

Wurden Sie aufs Land geschickt?

Nicht sofort. Erst als ich aus Deutschland zurückkam. Ende 1975 bis Ende 1976 arbeitete ich auf dem Land. Ich half bei der Schweinezucht. Das war damals für mich sehr schmerzlich. Ich kam zurück aus Deutschland, und nichts von dem, was ich dort gelernt hatte, war etwas wert. Heute aber sehe ich das anders. Es war doch eine Bereicherung meiner Lebenserfahrung. Ich weiß nicht nur alles über die Schweinezucht. Ich weiß auch, wie sehr einen körperliche Arbeit erschöpfen kann.

Haben Sie noch Freunde aus ihrer ersten Zeit in Ost-Berlin?

Wir waren zu dritt. Wir durften nicht an der Humboldt-Universität studieren. So hatten wir Professoren von der Universität, von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, die in die Botschaft kamen und uns dort unterrichteten. Die Frau meines Germanistikprofessors zum Beispiel lebt noch, und ich habe Kontakt zu ihr. Wir wurden damals nicht nur in Deutsch, sondern auch in Geschichte, Literatur und politischer Ökonomie unterrichtet.

Sie waren 1989 in der Botschaft …

Wir saßen vor dem Fernseher und verfolgten die Pressekonferenz von Günter Schabowski. Als er auf den Zettel sah …

Sie machen genau seine Handbewegung!

Ich habe mir das alles sehr gut gemerkt. Und sagte, die Grenze sei „ab sofort" geöffnet, da war ich sehr überrascht.

Ahnten Sie, was das bedeutete?

Sicher. Als Diplomat muss man solche Situationen einschätzen können. Ein wenig später fuhr ich dann von Pankow – dort war damals die Botschaft – zum Grenzübergang Bornholmer Straße, stellte mein Auto an der Grenze ab, nahm meinen Fotoapparat heraus und machte mehr als zweihundert Dias in dieser Nacht, von Leuten, die hinübergingen und von denen, die zurückkamen.

Da hatten Sie Ihren Bericht nach Peking schon geschrieben?

Nicht sofort. Erst nach der Öffnung. Aber da war klar, dass die DDR ihrem Ende entgegenging. Bei geöffneter Mauer gab es kein Halten mehr. Wir hatten ja schon vorher Diskussionen gehabt mit der SED.

Mit wem sprachen Sie?

Ich kenne persönlich alle Mitglieder des ehemaligen Politbüros der SED, denn ich habe damals für den Botschafter gedolmetscht. Honecker, Stoph, Mittag. Ich kannte sie alle.

Auch das Gebäude, in dem Sie heute als Botschafter residieren?

Ja, hier war der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund. Da war ich oft. Noch öfter allerdings im Zentralkomitee. Heute ist das das Außenministerium. Da gibt es Räume, in denen noch die Möbel von damals stehen. Ich war auch im Staatsratsgebäude, wo heute die European School of Management and Technology untergebracht ist.

Worüber diskutierten Sie mit der Partei- und Staatsführung?

Es war doch deutlich, dass es mit der DDR bergab ging. China dagegen entwickelte sich sehr gut.

Der Botschafter sagte zu Günter Mittag: Sie wirtschaften das Land herunter?

Nein, nein. Wir sind Diplomaten. Wir haben ihm vorgestellt, was wir in China machen, und was die Ergebnisse dieser Arbeit sind. Wir erklärten ihm, dass wir erkannt hätten, dass man nicht alles planen kann, dass man den Menschen einen Freiraum geben muss. Das auf die Situation der DDR zu beziehen, überließen wir ihm.

Die Erfahrung der DDR und die Erfahrung der Sowjetunion ist doch auch, dass Staaten polizeistaatlich sehr gut organisiert sein können und trotzdem stürzen sie zusammen wie ein Kartenhaus.

Der Staat darf nicht alle Ressourcen in die Rüstung stecken. Der wirtschaftliche Aufbau und die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen müssen die Priorität haben. So kann der Staat die Unterstützung der Bevölkerung bekommen. Auf die ist er angewiesen. Schauen Sie sich an, wie das damals aussah: Der Abstand zwischen Ost- und West-Berlin, zwischen der DDR und der Bundesrepublik wurde immer größer. Die Menschen fragten sich: Wir haben das bessere System, aber eine schlechtere Lebensgrundlage? Wo ist dann der Vorteil des Systems?

Als Sie in den Siebzigerjahren in der Volksrepublik lebten, dachten Sie nie, dass es den Leuten in Taiwan besser geht?

Wir hatten damals überhaupt keine Kontakte. Ich hatte keine Ahnung vom Leben in Taiwan. Sie dürfen aber auch nicht vergessen: In Taiwan leben 21 Millionen Menschen, auf dem Festland 1,3 Milliarden.

Wovon träumen die Chinesen? Was ist der chinesische Traum?

Jeder hat natürlich seine eigenen, sehr privaten Träume. Aber es gibt schon so etwas wie einen chinesischen Traum. Lassen Sie mich doch zunächst etwas anderes sagen: Seit November vergangenen Jahres haben wir eine neue, junge Führungsmannschaft. Staatspräsident Xi Jinping wurde 1953 geboren. Ministerpräsident Li Keqiang ist Jahrgang 1955. Seit dem Ende der Kulturrevolution darf ein führender Politiker nur noch maximal zwei Perioden in seinem Amt bleiben. Also allerhöchstens zehn Jahre. Vergangenes Jahr fand ein großer Wechsel statt. Wir haben jetzt eine dynamische, junge Führungsmannschaft.

Und der Traum?

Unser Staatspräsident Xi Jinping hat erklärt: Wir haben einen chinesischen Traum. Wir wollen China wieder zu einem starken, florierenden Land machen; wir wollen die chinesische Nation wiederbeleben; wir wollen, dass die Bevölkerung im Wohlstand lebt; wir wollen mit anderen Staaten auf gleicher Augenhöhe stehen; wir wollen aus dem rückständigen China ein modernes China machen. Das ist der Wunsch aller Chinesen. Wissen Sie, China hat eine fünftausendjährige Geschichte und abgesehen von den letzten zweihundert Jahren war China immer die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt. Noch vor den Opiumkriegen (1839-1842 und 1856-1860) erwirtschaftete China mehr als dreißig Prozent des Weltbruttosozialprodukts. Danach war China westlicher Unterdrückung, westlichem Kolonialismus ausgesetzt.

China gefiel sich in der Isolation.

Vor sechshundert Jahren schickte die Ming-Dynastie große Flotten in den Pazifik und in den Indischen Ozean. Beladen mit Geschenken. Es waren Forschungsreisen, die seltene Tiere – zum Beispiel Giraffen – mit nach China brachten. Man war neugierig auf die Welt. Man wollte dazulernen. Aber als ein neuer Kaiser kam, fand der, China sei das Reich der Mitte, China habe es nicht nötig, Wissen aus anderen Erdteilen zu beziehen. China isolierte sich dann selbst. China hat das Schießpulver erfunden, aber nicht die Kanonen, mit denen die Briten dann im Opiumkrieg China in die Knie zwangen. Eine große Nation wurde unterdrückt. Bis 1949. Das werden die Chinesen nie vergessen. Jetzt sehen wir die Chance für eine Renaissance der chinesischen Nation. Früher waren die Tore Chinas verschlossen. Die fremden Mächte stießen sie auf – mit Kanonen. Mit der Politik der Reformen haben wir selbst die Tore wieder aufgestoßen. Das ist die Öffnungspolitik.

China will wieder Weltmacht Nr. 1 werden?

Nein. China möchte wirtschaftlich und politisch auf gleicher Augenhöhe mit den anderen großen Staaten leben. Ein Fünftel der Menschheit lebt in China. Wenn es China besser geht, geht es der Menschheit besser. In den vergangenen Jahren hat China 250 Millionen Menschen aus der Armut befreit. Das ist auch ein großer Beitrag zu Frieden und Stabilität in der Welt. Mit nur sieben Prozent der Weltackerfläche ernährt China 22 Prozent der Menschheit. Es ist eine enorme Leistung der chinesischen Regierung, dass sie die Existenz der Menschen sichern kann. In China stellt jede größere Naturkatastrophe gleich die Ernährung der Menschen infrage. Diese Sorge haben die europäischen Regierungen nicht.

China ist jetzt die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt.

Nach absoluten Zahlen. Wir sind sehr froh darüber. Aber wenn Sie diese Zahl durch 1,3Milliarden dividieren, dann ist China auf Platz 89. Vor zehn Jahren lag das Bruttonationaleinkommen pro Kopf in China bei 1000US-Dollar im Jahr. Jetzt sind es 6000US-Dollar. Wie viel hat Deutschland? 44000 US-Dollar! Mehr als sieben Mal so viel wie China!

Wunderbare Wachstumsraten. Aber je höher man kommt, desto schwieriger sind sie zu erzielen.

Wir vergleichen unsere Entwicklung mit dem Bergsteigen: Je näher man dem Gipfel kommt, desto anstrengender wird es. Wir haben jetzt etwa zwei Drittel des Weges zurückgelegt. Jetzt fängt es an, wirklich schwierig zu werden.

Man muss sich auch anders organisieren dort oben. Sauerstoffflaschen zum Beispiel.

Die vergangenen dreiunddreißig Jahre lag unser durchschnittliches Wachstum stets über zehn Prozent. So ein stetiges Wachstum gab es in der modernen Menschheitsgeschichte noch nicht. Aber jetzt müssen wir die Art und Weise, wie wir uns entwickeln, deutlich verändern. Zum Beispiel bei den Ressourcen. Wir importieren mehr als fünfzig Prozent des Öls und des Erdgases, das wir verbrauchen. Es geht nicht mehr weiter mit der extensiven Entwicklung, die wir bisher betrieben haben. Wir müssen umsteigen auf eine intensive Nutzung der Ressourcen.

Ihre Energiebilanz …

Wir verbrauchen für das gleiche Produkt vier Mal so viel Energie wie Sie in Europa. Sieben Mal so viel wie die Japaner. Durch eine Veränderung der von uns genutzten Technologien können wir also die Effizienz unserer Rohstoffnutzung erheblich erhöhen. Siebzig Prozent der in China verbrauchten Energie kommt aus der Kohle. Wenn wir moderne Technologien einführen – Kohlevergasung, Kohleveredlung, Entschwefelung –, können wir unsere Umwelt verbessern.

Mehr Atomkraftwerke?

Atomkraft macht bei uns nur zwei Prozent aus. Wir möchten das auf vier Prozent erhöhen. Erneuerbare Energien tragen jetzt mit acht Prozent zu unserer Energieleistung bei. Das sollen bis 2020 fünfzehn Prozent werden. Das sind ambitionierte Ziele. Sie zu erreichen, brauchen wir Deutschland. Denn gerade auf diesem Gebiet ist die deutsche Industrie in der Welt ganz vorne. China und Deutschland vernetzen sich immer mehr. Für drei von deutschen Unternehmen in China geschaffene Arbeitsplätzen entsteht ein neuer in Deutschland. Der Chinahandel macht inzwischen sechs Prozent des deutschen Exports aus. Deutschland ist der sechstgrößte Handelspartner Chinas.

Die Umweltfragen sind lebenswichtig für China?

Die Umwelt ist in China sehr belastet. Im Frühling war ich dort. In Peking war ein solcher Smog, dass man kaum atmen konnte. Das führt natürlich auch zu großer Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Da steht die Regierung unter sehr starker Kritik. Wir müssen etwas tun. Die rückständigen Betriebe, die viel zu viel Energie verbrauchen und die Umwelt belasten, müssen geschlossen werden.

Kritik ist etwas Gutes?

Kritik ist ein Ansporn für eine neue Politik, für neue Herangehensweisen. Die neue, junge Führung setzt da jetzt neue Akzente.

Sie sprechen fast ausschließlich von der Wirtschaft, jetzt auch von der Umwelt. Welche Rolle spielen denn heute gesellschaftspolitische Fragen in China?

Es geht allen besser. Das ist die Grundlage. Aber einer Minderheit geht es viel, viel besser als es allen besser geht. Die unausgewogene Entwicklung ist ein Problem in China. Nicht nur dort. Die Unterschiede zwischen Land und Stadt, zwischen den Regionen, werden in China immer größer. Das Wachstum ist nicht überall gleich. Der Staat muss da für gesellschaftliche Fairness sorgen.

Ist „gesellschaftliche Fairness" ein fester Begriff der chinesischen Politik?

Ja. Man spricht von „gesellschaftlicher Fairness und Gerechtigkeit". Es geht dabei zum Beispiel um die 250 Millionen Wanderarbeiter, die zurzeit in den Städten Chinas leben. Sie arbeiten und leben dort. Aber sie genießen nicht die soziale Versorgung der anderen Stadtbewohner. Es gibt Städte, in denen dürfen sie nicht einmal eigene Wohnungen haben. Die Regierung ist dabei, diese Menschen – immerhin mehr als drei Mal so viel wie die Bundesrepublik Einwohner hat – Schritt für Schritt, nach und nach mit den anderen Stadtbewohnern rechtlich und sozial gleichzustellen. Das verstehen wir unter „gesellschaftlicher Fairness".

Hat die Zentralregierung in Peking die Macht, weit entfernten Städten und Regionen ihre Politik aufzuzwingen?

Sie hat nicht nur die Macht. Sie hat auch die finanziellen Mittel. Außerdem: Jede Provinzregierung ist verpflichtet, die Vorgaben der Zentrale zu erfüllen.

Ich höre hier immer wieder gerade von Wirtschaftsleuten, dass die Gespräche mit der Zentrale nicht wirklich helfen. Man muss immer auch die Machthaber vor Ort auf seine Seite ziehen.

Wir haben vier Ebenen: Gemeinde, Stadt, Provinz, Zentrale. Die Verhältnisse von Provinz zu Provinz sind sehr unterschiedlich. Die Politik der Zentrale muss umgesetzt werden auf die besonderen Verhältnisse in den einzelnen Städten, Kreisen und Provinzen. Es kommt auch zu Abweichungen. Aber die werden, wenn sie nicht auf der vorgegebenen politischen Linie der Zentrale liegen, korrigiert. Die abweichenden Beamten werden zur Verantwortung gezogen.

China ist ein riesiges Land. Die kleine Bundesrepublik schafft es nicht, überall gleichwertige Lebensverhältnisse zu bieten.

Peking, Schanghai, Kanton – das sind die modernsten Metropolen der Welt. In Zentralchina dagegen haben wir asiatische, in Westchina afrikanische Verhältnisse. Wir brauchen einen Länderfinanzausgleich, Regionalhilfen, vor allem aber neue Industrieansiedlungen. Go West! ist die Parole unserer Politik. Wir ermutigen ausländische Investoren, nach Zentralchina und in den Westen zu gehen. VW baut derzeit sieben neue Werke in China. Eines davon entsteht gerade in Ürümqi, der Hauptstadt des uigurischen autonomen Gebietes Xinjiang im Nordwesten Chinas.

Die Löhne sind dort sicher deutlich niedriger als in Schanghai?

Die Arbeitskosten sind ein Drittel weniger als in den Küstenregionen. Die Infrastruktur ist allerdings noch nicht so gut wie in Peking oder Kanton. Wir wollen und wir müssen die Urbanisierung Chinas forcieren. Das ist eine Chance für deutliche Wachstumsraten auch in Zukunft. Im vergangenen Jahr gab es zum ersten Mal in den 5000 Jahren chinesischer Geschichte 51 Prozent städtischer Bevölkerung. Ein Prozent mehr Urbanisierung heißt in China ein Anstieg der Stadtbevölkerung um 10 Millionen Menschen.

Artikuliert sich die Unzufriedenheit – zum Beispiel mit der Umweltverschmutzung – stärker in den Städten als auf dem Land?

Da ist kaum einen Unterschied. In den Städten ist es der Smog. Auf dem Land gibt es Fabriken, die das Grundwasser, Flüsse, Seen und den Boden verunreinigen. Die Bevölkerung wehrt sich dagegen. Wir sind sehr dafür, dass sich ein Umweltbewusstsein heranbildet. In den Schulen lehren wir zum Beispiel die Mülltrennung. Wenn die Kinder nach Hause kommen und sehen, dass die Eltern das nicht machen, dann schimpfen sie. Die Kinder erziehen die Eltern!

Shi ist ihr Familienname. Er bedeutet „Geschichte". Was bedeutet Mingde?

De ist ein zentraler Begriff des Taoismus und heißt so viel wie innere Kraft, Charakter, Tugend. Es war übrigens während des Zweiten Weltkriegs auch die Abkürzung für Deutschland. Ming bedeutet so viel wie Verstehen, Licht. Mingde ist also die Verbindung von Verständnis und Tugend.

Man sieht, Sie kommen aus einer Familie von Intellektuellen. Wenn wir einmal das Wirtschaftliche beiseitelassen, was hat Sie besonders beeindruckt in Berlin?

Jedes Mal, wenn ich an dem „Denkmal für die ermordeten Juden Europas" in unmittelbarer Nähe des Brandenburger Tors vorbeifahre, kann ich nicht umhin, zu denken, wie mutig man sein muss, für das Kapitel eigener unrühmlicher Geschichte geradezustehen. Weil die Deutschen sich ihrer Geschichte stellen, ihre Vergangenheit gewissenhaft aufarbeiten und ihre Fehler mit Taten korrigieren, haben sie das Vertrauen und den Respekt von Europa und der ganzen Welt gewonnen. Das ermöglichte die Versöhnung mit den Nachbarländern, bildete und bildet noch immer ein solides Fundament für Europas Frieden und Wohlstand, für die europäische Integration.

Das beeindruckt Sie sehr?

Mindestens so sehr wie der wirtschaftliche Erfolg und die neuen Technologien Deutschlands.

Können Sie sich in China ein Mahnmal zum Beispiel für die Opfer der Kulturrevolution oder des Großen Sprungs nach vorn vorstellen?

Wir haben aus den Fehlern gelernt und richtige Schlussfolgerungen gezogen, werden den Weg des Sozialismus chinesischer Prägung und die Politik der Reform und Öffnung fortsetzen.

 

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