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Botschafter Wu Ken im Interview mit der Zeitung "Behörden Spiegel"
2022-01-11 11:00

Sie sind seit März 2019 Botschafter und einschließlich Ihres Studiums in Frankfurt bis heute rund 18 Jahre oder die Hälfte Ihres beruflichen Lebens hier bzw. in unserer Nachbarschaft als Diplomat tätig. Wie sehen Sie als "Gasteuropäer" die EU?

In der Tat habe ich die Hälfte meiner diplomatischen Laufbahn in Deutschland sowie in Österreich, der Schweiz und den Niederlanden verbracht. Ich kann daher sagen, dass ich mich mit Deutschland und Europa in besonderer Weise verbunden fühle. Was meinen Eindruck von der EU und den chinesisch-europäischen Beziehungen rückblickend wohl am stärksten geprägt hat, sind zwei Veränderungen und zwei Konstanten: Zum einen der riesige Wandel, den der europäische Integrationsprozess mit sich gebracht hat. Zu den Meilensteinen zählen etwa der europäische Binnenmarkt, der Schengenraum und die Eurozone. Eine weitere große Veränderung, ist die Geschwindigkeit, mit der sich die chinesisch-europäischen Beziehungen entwickeln. Das zeigt sich schon allein am Beispiel der Wirtschafts- und Handelszusammenarbeit. Mit einem bilateralen Handelsvolumen von annähernd 650 Milliarden US-Dollar war China im Jahr 2020 erstmals der größte Handelspartner der EU. Der beiderseitige Handel erreicht heute alle zwei Tage fast das Volumen des ganzen Jahres in den Anfangszeiten der China-EU-Beziehungen.

Gleichzeitig gibt es zwei große Konstanten: Zum einen bestehen nach wie vor keine substantiellen Interessenkonflikte oder geopolitischen Spannungen zwischen China und Europa. Zum anderen betrachtet China die Beziehungen zur Europäischen Union nach wie vor aus strategischer Warte. China unterstützt seit jeher die strategische Souveränität der EU, damit Europa eine größere Rolle auf der internationalen Bühne spielt. 

Unsere beiden Staaten unterhalten seit 1972 diplomatische Beziehungen von großer Vielfalt, beachtlicher Dichte und Substanz. Dennoch bestehen Meinungsunterschiede, z.B. bei den Menschen- und Freiheitsrechten oder der Geltung internationalen Rechts. Lassen sich dafür Kompromisse finden?

Seit der Aufnahme unserer diplomatischen Beziehungen hat sich die chinesisch-deutsche Zusammenarbeit in diversen Bereichen deutlich vertieft. Bei der Positionierung unserer bilateralen Beziehungen haben wir immer neue Höhen erreicht. Aus "Partnern mit globaler Verantwortung" wurden "strategische Partner", und heute sind wir "umfassende strategische Partner". China ist seit fünf Jahren in Folge der größte Handelspartner Deutschlands weltweit, während Deutschland seit geraumer Zeit der wichtigste Handelspartner Chinas in der EU ist.

All dies zeigt, dass die Zusammenarbeit seit jeher die tragende Säule der chinesisch-deutschen Beziehungen ist. China und Deutschland unterscheiden sich in ihrer Geschichte und Kultur, ihren Gesellschaftssystemen und ihrem Entwicklungsstand. Es ist daher völlig normal, dass in einigen Fragen auch unterschiedliche Ansichten bestehen. Meinungsunterschiede sind aber keineswegs Stolpersteine im bilateralen Verhältnis, sondern vielmehr Prüfsteine für Verständnis und Freundschaft. Der Hauptgrund, weshalb die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern trotz aller Herausforderungen so erfolgreich sind, liegt darin, dass wir einander respektieren, nach Gemeinsamkeiten suchen und dabei gleichzeitig Differenzen zurückstellen. Beide Seiten vermeiden Nullsummenspiele und streben stattdessen nach gegenseitigen Vorteilen und einer Win-win-Situation. Gemeinsam mit der deutschen Seite möchte China den Leitgedanken des Dialogs und der Zusammenarbeit fest verankern, damit sich unsere bilateralen Beziehungen auch in Zukunft stabil und weitreichend entwickeln. So werden wir auch das 50-jährige Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und Deutschland in diesem Jahr im noch positiveren Licht begrüßen können.

Wie empfanden Sie Angela Merkels 16-jährige Kanzlerschaft? Wie interessiert schaut Peking nun nach Berlin? Erwartet man von der neuen Bundesregierung die Fortsetzung des "alten Kurses"?

Die bemerkenswerte Entwicklung der chinesisch-deutschen Beziehungen während der Amtszeit von Angela Merkel ist nicht nur das Ergebnis der gemeinsamen Anstrengungen beider Seiten. Diese Entwicklung ist letztlich auch untrennbar mit dem pragmatischen und besonnenen Kurs der Bundeskanzlerin verbunden, die stets im Zeichen der Zusammenarbeit stand. China betrachtet Deutschland nach wie vor als wichtigen Partner und ist bereit, engen Dialog und intensive Zusammenarbeit mit der neuen Bundesregierung, dem neuen Bundestag sowie allen Parteien zu pflegen. Wir hoffen, dass die neue Regierung die aktive und pragmatische Kooperationspolitik mit China fortsetzt. Gemeinsam möchten wir erreichen, dass unsere Beziehungen ihre Dynamik beibehalten, sich stabil entwickeln und weiter vertiefen. Zugleich gehen die chinesisch-deutschen Beziehungen aber auch weit über den bilateralen Rahmen hinaus. Mehr denn je sind gegenwärtig Vertrauen und Zusammenarbeit gefragt, um Multilateralismus und Freihandel zu schützen und globale Herausforderungen wie die Corona-Pandemie und den Klimawandel zu bewältigen. China und Deutschland sollten hier ihre Bemühungen unbeirrt fortsetzen. 

Es bleibt unser Interesse, dass China seine Märkte für deutsche Unternehmen weiter öffnet, mehr politische und ökonomische Partizipation zulässt und den Patentschutz verbessert. Wie stehen die Chancen, dass dies gelingt?

Zum einen sind wir gerade dabei, unsere Öffnung weiter auszubauen, und werden dies fortsetzen. Chinas Vorstoß zur Optimierung seines Geschäftsumfeldes durch entsprechende Verordnungen geht ins dritte Jahr, gleiches gilt für die Umsetzung unseres Gesetzes über Auslandsinvestitionen. Wir haben hier bereits eine Reihe ganz konkreter Maßnahmen ergriffen. Unter anderem wurden die beiden Negativlisten für den Marktzugang und den Zugang ausländischer Investoren weiter reduziert und die geordnete Öffnung des Finanzsektors fortgesetzt.

In Sachen Patentschutz ist China heute selbst eine Großmacht im Bereich der geistigen Eigentumsrechte. Es liegt auch in unserem eigenen Interesse, diese Rechte besser zu schützen. Nach einem Bericht der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) von Anfang des Jahres 2021 war China 2020 zum zweiten Mal in Folge Weltmeister bei den internationalen Patentanmeldungen. Laut dem jüngsten Global Innovation Index 2021 ist unser Land im Innovationsbereich weltweit auf Platz 12 vorgerückt. Als einzige Volkswirtschaft mit mittlerem Einkommen haben wir es damit unter die Top 30 geschafft. Öffnung ist letztlich der "Code" des chinesischen Wirtschaftswunders. Die 6. Plenartagung des XIX. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas wies darauf hin, dass Reform und Öffnung einen bedeutenden Schritt darstellen, der über die Zukunft und das Schicksal des heutigen Chinas entscheidet. Dass China weiterhin eine offene Volkswirtschaft bleibt, ist für uns keine Option, sondern ein klares Muss.

Zum anderen sind Deutschlands Erwartungen an die Öffnung der chinesischen Märkte weiterhin positiv. Wie erwähnt, ist China seit fünf Jahren Deutschlands größter globaler Handelspartner. Eine aktuelle Umfrage der Deutschen Handelskammer in China hat gezeigt, dass die meisten deutschen Unternehmen ihre Geschäftstätigkeiten in China optimistisch bewerten. Mehr als 70 Prozent planen, ihre Investitionen vor Ort aufzustocken, fast 60 Prozent erwarten eine Gewinnsteigerung, und 96 Prozent haben keine Pläne, China zu verlassen. Angesichts der stockenden Erholung der Weltwirtschaft zeigt diese optimistische Stimmung, dass Chinas Grad an Öffnung die Zustimmung der deutschen Unternehmen findet. Das chinesisch-europäische Investitionsabkommen, das vor einem Jahr geschlossen wurde, wäre ein guter Weg, um die Investitionszusammenarbeit zwischen Unternehmen beider Seiten weiter zu fördern und zu festigen. Leider wird das Thema jedoch durch künstliche politische Barrieren behindert.

Peking will keine neuen Kohlekraftwerke mehr im Ausland bauen, setzt im Inland auf Solar- und Windkraft und will die Kohleemissionen bis 2030 mit über 65 Prozent gegenüber 2005 senken. Ist das die Energiewende für das Land? Was passiert mit den dortigen Atomkraftwerken? 

Staatspräsident Xi Jinping hat im Jahr 2020 angekündigt, dass China vor 2030 den Höhepunkt seiner Kohlenstoffemissionen erreichen will und vor 2060 Kohlenstoffneutralität anstrebt. Auf der 76. Tagung der UN-Generalversammlung hat er zudem die Verpflichtung formuliert, keine neuen Kohlekraftwerke außerhalb Chinas mehr zu bauen. All dies demonstriert eindrücklich Chinas Entschlossenheit für den Klimaschutz.

Wir werden uns an das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung halten, unserem neuen Entwicklungskonzept folgen und Chinas Energiewende wissenschaftlich und geordnet vorantreiben. Ziel ist es, ein sauberes, kohlenstoffarmes, sicheres und effizientes Energiesystem aufzubauen. Wir werden alles daran setzen, mehr Strom aus Wind- und Sonnenenergie zu gewinnen, und den Bau von Kernkraftwerken in Küstennähe sicher und vorsichtig voranbringen. Auf diese Weise möchten wir einen noch größeren Beitrag zur Bewältigung des weltweiten Klimawandels leisten.

Staatschef Xi Jinping will die Macht der Konzerne begrenzen und mehr Sozialismus wagen. Die Wirtschaftseliten finden den "Red New Deal" (in Anlehnung an die Wirtschafts- und Sozialreformen von US-Präsident Franklin D. Roosevelt in den Dreißigerjahren) nicht so gut. Welchen Plan verfolgt Ihr Präsident?

Chinas jüngste Schritte zur stärkeren Regulierung, die Sie hier ansprechen, zielen auf illegales Vorgehen und Gesetzesverstöße einiger Unternehmen, die ihre Monopolstellung zum Nachteil von Wettbewerb, Innovation und Verbraucherinteressen missbrauchen. Die jüngsten Maßnahmen tragen dazu bei, einen breiteren Entwicklungsspielraum für alle Marktteilnehmer zu schaffen, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen. Zudem werden die Rechte und Interessen der Verbraucher so besser geschützt. Ich habe verfolgt, dass auch die EU in den letzten Jahren eine standardisierte Regulierung digitaler Großkonzerne ausgelotet hat und diese befürwortet.

Das Jahr 2021 markierte den Startschuss für Chinas 14. Fünfjahresplan. China arbeitet momentan mit Hochdruck an der Gestaltung eines neuen Entwicklungsmusters. Es soll sich hauptsächlich auf unseren großen inländischen Wirtschaftskreislauf stützen, und ergänzt werden durch einen Doppelkreislauf aus inländischem und internationalem Markt, die einander gegenseitig fördern. Dabei halten wir an unserem neuen Entwicklungskonzept fest, das sich durch Innovation, Koordination, Umweltverträglichkeit, Offenheit und Teilhabe auszeichnet. Durch Entwicklung hoher Qualität möchten wir gemeinsamen Wohlstand schaffen. Dabei konzentrieren wir uns auf die Lösung bestehender Schlüsselprobleme, etwa des Entwicklungsgefälles zwischen den Regionen sowie zwischen Stadt und Land, aber auch wachsender Einkommensunterschiede. Wir geben unser Bestes, damit alle Menschen noch stärker und gerechter an den Früchten der Entwicklung beteiligt werden.

China droht deutlicher denn je mit einer Invasion Taiwans. Nach den USA, Großbritannien und Frankreich schickt nun auch Deutschland eine Fregatte ins Südchinesische Meer. Was würde Ihrer Meinung nach dort mehr Ruhe und Ordnung schaffen?

Zunächst einmal muss ich richtigstellen, dass es nur ein einziges China auf dieser Welt existiert. Taiwan ist untrennbarer Bestandteil des chinesischen Territoriums. Dies ist der allgemeine Konsens der internationalen Gemeinschaft, einschließlich Deutschlands. Es gibt also keine sogenannte "Drohung Chinas mit einer Invasion Taiwans". Die gegenwärtigen Spannungen in den Beziehungen zwischen den beiden Seiten der Taiwan-Straße sind auf die Versuche der "Unabhängigkeit Taiwans" und der Abspaltung zurückzuführen. Sie stellt letztlich die größte Bedrohung für Frieden und Stabilität in der Region dar. Alle Seiten sollten sich an das Ein-China-Prinzip halten und mit der Taiwan-Frage behutsam und maßstäblich umgehen. 

Uns ist bewusst, dass eine deutsche Fregatte in den indo-pazifischen Raum entsendet wurde und durch das Südchinesische Meer fährt. Die Lage vor Ort ist derzeit allgemein stabil. Die Freiheit der Schifffahrt und des Überflugs sind gesetzlich geschützt, was den gemeinsamen Bemühungen Chinas und seiner Nachbarländer zu verdanken ist. Einmischungen von außen stören Ruhe und Frieden in der Region nur unnötig. Wir rufen deshalb alle Staaten außerhalb des Gebiets dazu auf, die Bemühungen Chinas und der ASEAN-Länder um die Wahrung von Frieden und Stabilität im Südchinesischen Meer zu respektieren.

Wie beurteilen Sie das Bild Ihres Landes bei uns? Wie ist unser Image in China?   

In dem Maße, wie sich die chinesisch-deutschen Beziehungen weiterentwickeln, erweitert und vertieft sich auch der Austausch unserer Länder in unterschiedlichsten Bereichen sowie auf personeller Ebene. Unsere beiderseitig vorteilhafte Zusammenarbeit ist ein großer Gewinn, nicht nur für beide Völker, sondern auch für die übrige Welt. Das Bild vom jeweils anderen in den Köpfen der Menschen ist heute vielschichtiger und plastischer. Gleichzeitig muss man aber auch erkennen, dass das Chinabild der Deutschen noch immer stark von der Realität abweicht. Offen gesagt hängt diese Wahrnehmungsverzerrung stark mit der bewusst einseitigen Medienberichterstattung zusammen. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass es unseren Völkern gelingen wird, einander besser zu verstehen. Der Schlüssel hierfür sind gegenseitiger Respekt, und die Weisheit und der Mut, unter Zurückstellung von Differenzen nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Die Chinesische Botschaft in Deutschland möchte ein wahrheitsgetreues und vielfältiges Chinabild vermitteln. Das tun wir zum Beispiel über Social-Media-Plattformen wie Twitter oder Instagram. Die deutschen Freunde sind herzlich eingeladen, uns auf diesen Kanälen zu folgen.

Wenn Sie nicht Diplomat geworden wären – was dann?

Ich bin begeisterter Hobbysportler. Schon als Kind hatte ich ein gewisses sportliches Talent im Mittelstreckenlauf. Wenn ich also nicht die Diplomatenlaufbahn eingeschlagen hätte, dann hätte ich wahrscheinlich hart trainiert, um Profisportler zu werden. Derzeit laufen in Beijing die Vorbereitungen für die Olympischen Winterspiele 2022 auf Hochtouren. Für die Wintersportler aus aller Welt ist das ein ganz besonderes Highlight und ich wünsche allen teilnehmenden Athleten von ganzem Herzen viel Erfolg.

Sie haben das letzte Wort – was möchten Sie noch anführen?

Es war mir eine große Freude, mit Ihnen zu sprechen. Vielen Dank für das Interview. Ich hoffe, es trägt dazu bei, der deutschen Öffentlichkeit ein objektives und umfassendes Bild von unserem Land zu vermitteln.

Die Fragen stellte Peter Slama.

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