Home Über uns Wirtschaft und Handel Kontakt Konsularservice Bildung Presse Links
 
Home > Der Botschafter  > Interviews
Botschafter WU Ken im Interview mit junge Welt (Teil 2 und Schluss)
2020-03-05 17:21

Angesichts der Probleme, die das neu entstandene Coronavirus mit sich bringt, mischen sich beunruhigende Töne in die hiesige Berichterstattung. So etwa auf einem reißerischen Spiegel-Titel zum Thema (Heft 6/2020) mit der Überschrift »Made in China«. Haben Sie eine Erklärung für diese Haltung, die fast schon den Charakter einer Kampagne trägt? Wie empfinden Sie diese Stimmungsmache?

Gegenwärtig setzt China alles daran, eine weitere Ausbreitung der Epidemie zu verhindern und das neuartige Coronavirus einzudämmen. Für China haben die Sicherheit und die Gesundheit seiner Bürger sowie aller ausländischen Bürger im Land oberste Priorität, unser Land übernimmt hierfür die Verantwortung. Es werden derzeit umfassende und strengste Präventions- und Kontrollmaßnahmen ergriffen.

Die internationale Gemeinschaft, darunter auch Deutschland, leistet China im Kampf gegen das Virus große Unterstützung und Hilfe. Hierfür bedanken wir uns aufrichtig! Auf der anderen Seite hat China die Rückführung deutscher Staatsbürger aus Wuhan nach Kräften unterstützt. Auch weiterhin stehen für uns das Leben und die Gesundheit aller in- und ausländischen Mitbürger in China an erster Stelle. China ist zuversichtlich und fähig, die Epidemie zu überwinden.

Gleichzeitig haben wir aber auch sehr wenige extreme und irrationale, ja teils sogar rassistische Aussagen wahrgenommen. Die Epidemie darf keinesfalls zu einer Entschuldigung für Diskriminierung und Ausgrenzung werden. Die Gefahr, dass Rassismus unter dem Deckmantel der Presse- und Meinungsfreiheit gerechtfertigt wird, liegt auf der Hand. In Zeiten der Globalisierung ist das Schicksal aller Länder eng miteinander verbunden. Angesichts der aktuellen Herausforderung für die öffentliche Gesundheit sollten wir also alle eng zusammenarbeiten, nicht nur um diese Epidemie, sondern auch um »politische Viren« einzudämmen und eine Infodemie zu verhindern. Erfreulicherweise haben viele deutsche Leser ihre Opposition und Empörung über die unangemessene Berichterstattung zum Ausdruck gebracht. Ich möchte mich den Worten von WHO-Generaldirektor ­Tedros Ghebreyesus anschließen: »Im Augenblick brauchen wir Fakten statt Ängste, Wissenschaft statt Gerüchte, Solidarität statt Demütigung.« ­China ist bereit, die Coronaepidemie Hand in Hand mit der internationalen Gemeinschaft zu überwinden und gemeinsam die regionale sowie globale öffentliche Gesundheit sicherzustellen.

Wie schätzen Sie die gegenwärtige Lage ein?

Wir sind noch nicht am Wende- bzw. Scheitelpunkt der Krise. Aber die chinesischen Maßnahmen haben bereits gewirkt: Die Zahl der bestätigten Neuerkrankungen landesweit außer Hubei ist seit mehreren Tagen auf einen einstelligen Wert gesunken. Insgesamt wurden am 3. März in China 119 neu bestätigte Fälle registriert, nur vier davon außerhalb der Provinz Hubei. Und die Genesungsrate steigt rasant an. Nach Abschluss der neuntägigen Inspektionsreise von Experten der WHO und aus China kam der WHO-Generaldirektor Dr. Ghebreyesus zum Schluss, dass Chinas beispiellose Maßnahmen die grenzüberschreitende Ausbreitung der Epidemie wirksam eingedämmt und der internationalen Gemeinschaft wertvolle Zeit verschafft haben.

Das ist die medizinische Seite. Wie sieht es mit der ökonomischen aus?

Die chinesische Regierung ist dabei, die Produktion wiederzubeleben. Diese Epidemie dauert jetzt etwas länger als einen Monat, und unsere Wirtschaft wurde davon seither ohne Zweifel beeinträchtigt, d. h. sie entwickelt sich derzeit nicht im normalen Rhythmus. Vor kurzem wurde die Produktion in einigen wichtigen, wirtschaftsstarken Regionen wieder angefahren, wie in Guandong, wo ich von 2013 bis 2016 als Generalsekretär der Provinzregierung tätig war. Kantonesische Freunde sagten mir, dass viele Unternehmen, schätzungsweise mehr als 80 Prozent, bereits wieder produzieren, in der Provinz Jiangsu und in Shanghai sind es sogar über 90 Prozent. Mit anderen Worten, es gibt Zeichen dafür, dass die chinesische Wirtschaft sich von dieser Epidemie schrittweise erholt.

In westlichen Medien ist immer wieder die Rede davon, offizielle Stellen in China hätten effektive Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus zunächst verhindert und überhaupt zu spät reagiert.

Dieses Coronavirus ist bekanntlich ein neuartiges Virus, niemand wusste, woher es kam und wie es entstanden ist. Wie lässt sich ein solcher Erreger eindämmen? Man brauchte zunächst einige Zeit, um dieses Virus überhaupt kennenzulernen und entsprechende Behandlungsmaßnahmen einzuleiten. Sobald unserer Regierung klar war, um was es sich da handelte, hat sie unverzüglich die strengsten Maßnahmen ergriffen. Viele davon gehen weit über die Anforderungen der Internationalen Gesundheitsvorschriften der Weltgesundheitsorganisation hinaus. Ich würde diese Vorwürfe also zurückweisen.

Die Volksrepublik hat am 1. Oktober 2019 den 70. Jahrestag ihres Bestehens gefeiert. Was sind in Ihren Augen die wichtigsten Errungenschaften der Revolution?

In den 70 Jahren seit der Gründung der Volksrepublik China ist unserem Volk eigenständig und durch harte Arbeit ein weltweit beachteter Entwicklungssprung gelungen. China hat sich zunächst aufgerichtet und dann Wohlstand und Stärke erreicht. Heute sind wir die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt sowie der größte Handelspartner von mehr als 130 Ländern und Regionen. Unser Beitrag zum globalen Wirtschaftswachstum liegt seit einigen Jahren über 30 Prozent. Nach neuesten Zahlen ist Chinas Wirtschaft im Jahre 2019 um 6,1 Prozent gewachsen, das Bruttoinlandseinkommmen pro Kopf sprengte die historische Marke von 10.000 US-Dollar. Unser Land hat das weltweit größte mobile Breitbandnetz geschaffen. Und nahezu 90 Prozent der Chinesen zahlen per mobilem Internet, das Portemonnaie kann wirklich zu Hause bleiben. China übernimmt im Rahmen seiner Fähigkeiten aktiv internationale Verantwortung und Verpflichtungen. Seine Entwicklung ist untrennbar mit der Welt verbunden, und auch der Wohlstand der Welt braucht unser Land.

Was genau beinhaltet der »chinesische Traum«, von dem in offiziellen Partei­dokumenten so häufig die Rede ist? Was bedeutet er mit Blick auf das Verhältnis von sozialem und technologischem Fortschritt?

Jeder Mensch und jedes Land hat eigene Träume. Nach über einhundert Jahren der Demütigung und des Leides träumt die chinesische Nation von Erstarken und Wohlstand des Landes, dem Wohlergehen seiner Menschen und dem Wiederaufleben der eigenen Nation. All das zu verwirklichen, ist unser »chinesischer Traum«. Doch dies ist keineswegs ein »hegemonialer Traum«. Wir wollen niemanden ersetzen, sondern vielmehr die Würde und den Status wiederherstellen, die uns zustehen. Mit Blick auf die Zukunft bewegt sich ein Land wie China mit seiner 5.000 Jahre alten Zivilisationsgeschichte sicher in Richtung größerer Stärke, was aber keineswegs Kompromisslosigkeit bedeutet. China tritt für Selbständigkeit ein, nicht aber für Willkür. Natürlich werden auch wir unsere Rechte entschlossen verteidigen, aber China wird niemals eine Welthegemonie anstreben.

Auch in Ihrem Land gibt es eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Was unternimmt die KP dagegen, gibt es nach wie vor konkrete Programme zur Bekämpfung der Armut?

Seit der Gründung der Volksrepublik China und insbesondere in den über vier Jahrzehnten der Reform und Öffnung haben wir Chinesen den Mangel am Lebensnotwendigsten, nämlich an ausreichend Nahrung und Kleidung, erfolgreich überwunden. Es hat sich eine in jeder Hinsicht wohlhabende Gesellschaft entwickelt. Insgesamt wurden fast 800 Millionen Menschen aus der Armut befreit. China hat damit 70 Prozent zur weltweiten Armutsüberwindung beigetragen. Wir haben also ein echtes Wunder in der Geschichte der weltweiten Armutsbekämpfung vollbracht. Zudem haben wir das größte Sozialversicherungssystem der Welt geschaffen.

Doch die Volksrepublik ist nach wie vor das größte Entwicklungsland der Welt. Chinas Pro-Kopf-BIP beträgt nur ein Viertel dessen der EU, und unser Land steht noch immer vor Herausforderungen wie einer unausgewogenen und unzulänglichen Entwicklung. Deshalb vertiefen wir weiterhin umfassend unsere Reformen, setzen auf qualitativ hochwertige Entwicklung und auf eine noch stärkere Öffnung. Auch intensivieren wir den gezielten Kampf gegen die Armut, damit Chinas Bevölkerung noch mehr von den Erfolgen der Wirtschaftsentwicklung profitieren kann. Allein 2019 hat unser Land mehr als zehn Millionen Menschen aus der Armut geholt. Und in diesem Jahr werden wir eine in jeder Hinsicht moderat wohlhabende Gesellschaft aufbauen, die absolute Armut grundsätzlich beseitigen, und damit neue Beiträge zur weltweiten Armutsbekämpfung leisten.

Am 23. Juli 2021 begeht die KP Chinas ihren 100. Geburtstag. Welchen Stellenwert hat marxistische Bildung in der Volksrepublik heute?

Karl Marx ist der größte Denker der Neuzeit. Die marxistische Wissenschaftstheorie offenbart auf kreative Weise die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung menschlicher Gesellschaften. Sie ist ein geistiger Schatz von größtem Wert und Einfluss. Die KP Chinas ist eine marxistische Regierungspartei. Sie verbindet die Grundprinzipien des ­Marxismus-Leninismus mit den Realitäten unseres Landes. Unsere Partei hat sich daran gehalten, das Denken zu befreien, die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen, mit der Zeit Schritt zu halten und realistisch und pragmatisch zu handeln. Und wir beschreiten den sozialistischen Weg chinesischer Prägung. Xi Jinpings Gedanken über den Sozialismus chinesischer Prägung im neuen Zeitalter verbinden die marxistischen Grundprinzipien mit der konkreten Realität unserer Zeit. Sie bilden damit das neueste Ergebnis der Sinisierung des Marxismus. Ich habe festgestellt, dass nicht nur China vom Marxismus lernt, ihn erforscht und praktiziert. Auch westliche Gelehrte, etwa aus Deutschland und Großbritannien, werden sich zunehmend der Bedeutung des Marxismus für unsere heutige Welt bewusst.

In welcher Weise nutzen die chinesischen Kommunisten die Jahrtausende alte kulturelle Tradition ihres Volkes und setzen sie konkret fort?

Die Tradition spielt in unserer Gesellschaft und im Leben jedes einzelnen eine zentrale Rolle. Wir Chinesen beschäftigen uns mit unserer Kultur von klein auf. Nehmen Sie die Schriftzeichen. Ich habe im Alter von sechs, sieben Jahren mit Kalligraphie begonnen. Mein Vater hat mich unterrichtet und ließ mich jeden Tag zwei Seiten schreiben, klassisch mit dem Pinsel. Nach Feierabend überprüfte er meine Hausaufgaben. Schrieb ich ein bestimmtes Zeichen gut, lobte er mich, machte ich es schlecht, kritisierte er mich. In einer solchen Umgebung wuchs ich in sehr enger Verbindung mit der chinesischen Kultur auf. Auch jetzt noch widme ich mich gelegentlich der Kalligraphie, am Wochenende, wenn ich Zeit habe. Es ist nicht nur eine geistige Übung, sondern sorgt auch für Ruhe und Ausgeglichenheit, ist also auch gut für die Gesundheit. Das ist vielleicht ein Beispiel für die Traditionen, in denen auch unsere Partei wurzelt.

Ist so zu erklären, dass die KP in sehr langen Zeiträumen plant?

Die chinesische Regierung und die Partei denken immer langfristig. Auch gerade weil die chinesische Geschichte über 5.000 Jahre zurückreicht. In dieser Hinsicht unterscheidet sich unsere Politik vielleicht von der in Europa.

Ein chinesischer Kommunist sagte mir einmal, er könne nicht verstehen, dass der neue Flughafen in Berlin nach jahrelanger Bauzeit noch immer nicht fertiggestellt sei. In der Volksrepublik gehe man anders vor, mache einen Plan und versuche, ihn so zu gestalten, dass möglichst viele Menschen von dessen rascher und effizienter Umsetzung profitieren. Das sei die einfachste Definition von Sozialismus.

Sie haben da ein ein gutes Beispiel genannt. ­Schauen Sie nach Wuhan, die Stadt, die derzeit so schwer von dieser Epidemie gebeutelt ist. Innerhalb von fünfzehn Tagen haben wir dort zwei große Krankenhäuser mit über 2.500 Betten errichtet. Das ist einmalig in der Weltgeschichte – und hängt natürlich mit unserem System zusammen. Dergleichen kann man sich hier in Deutschland kaum vorstellen. Man sollte sich immer bewusst sein, dass jedes System seine eigenen Vorzüge hat.

Viele fortschrittlich Denkende hierzulande sind irritiert, dass in die chinesische KP auch ultrareiche Unternehmer aufgenommen werden. Erst die durch die Reformpolitik der KP ausgelöste wirtschaftliche Entwicklung hat diesen Reichtum ermöglicht. Auch das vielleicht ein neues Phänomen in der Weltgeschichte. Gibt es einen neuen Typus von Kapitalisten in der Volksrepublik?

Das ist in der Tat ein interessantes Phänomen. In China sind viele große Unternehmer Parteimitglieder geworden, aus freien Stücken und als ganz bewusste Entscheidung. Man will Kommunist sein, um neben dem Geschäft noch ein eigenes politisches Ziel zu verfolgen – und der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Ziel der KPCH ist, für die Bevölkerung ein wohlhabendes und glückliches Leben zu gewährleisten und die chinesische Nation wiederzubeleben, was in hohem Maße mit der sozialen Verantwortung herausragender privater Unternehmen vereinbar ist.

Wie geht die Partei mit Entscheidungen um, die im Rückblick problematisch erscheinen, etwa dem »Großen Sprung nach vorn« oder der Kulturrevolution?

Man darf nicht vergessen, der Sozialismus war bei uns eine ganz neue Sache. In der Gründungsphase der Volksrepublik China haben wir viel von der UdSSR gelernt und viele Experimente gemacht. Aber danach erkannten wir, dass China eine andere Lösung finden muss, eine, die zur Situation des Landes passt. Und diesen Weg haben wir gefunden, nämlich den sozialistischen Weg chinesischer Prägung. Ende 1978 hat Deng Xiaoping die Öffnung des Landes nach außen durchgesetzt. In der Folge hat China sein Tor zum Westen geöffnet. Viele westliche Firmen sind zu uns gekommen, um Geschäfte zu machen, darunter 1984 Volkswagen als erstes deutsches Unternehmen in der Auto­mobilindustrie.

Am 28. November ist der 200. Geburtstag von Friedrich Engels. Welche Aktivitäten sind in China geplant? Wird eine Delegation der KP nach Wuppertal, Engels' Geburtsort, kommen?

Engels ist ein großer Denker, Philosoph und revolutionärer Mentor. Er ist gut bekannt bei uns, über ihn und sein Werk wurden freundschaftliche Bande zwischen China und Wuppertal geknüpft. China hat der Stadt Wuppertal 2014 eine Bronzestatue von Engels geschenkt, um seinen Respekt und sein Gedenken an diesen großen Philosophen und Denker zum Ausdruck zu bringen. Wir freuen uns für die Zukunft auf noch mehr Austausch und Zusammenarbeit zwischen China und Wuppertal sowie zwischen unseren beiden Ländern in allen Bereichen.

Fahren Sie selbst hin?

In der Marx-Stadt Trier war ich bereits, es war mein erster Antrittsbesuch außerhalb Berlins. Ich habe da das Geburtshaus von Karl Marx besichtigt, und der Oberbürgermeister hat mir eine Urkunde überreicht. Ich plane auch, einmal die Heimat von Friedrich Engels zu besuchen.

Was bedeutet es für Sie, Kommunist zu sein?

Bereits während meines Studiums hatte ich mich sehr darum bemüht, Parteimitglied zu werden. Nach zweijähriger äußerst harter Arbeit wurde ich schließlich im Jahr 1984 in die KP aufgenommen. Für mich sind Sozialismus und Kommunismus als Ziele lebenswichtig. Als Diplomat kann ich meinem Land und seinen Menschen am besten dienen, es ist mein Weg. Und ich gehe ihn bis zum Ende meines Lebens als Mitglied der Kommunistischen Partei.

Interview: Stefan Huth

Foto: Gabriele Senft

Suggest to a friend
  Print